Stellen Sie sich vor, Sie leben mitten in der Großstadt und der Blick aus dem Fenster zeigt statt grauer Betonwüsten üppiges Grün. Auf Dächern und Fassaden, Balkonen und Terrassen wuchern und wachsen Pflanzen, bunte Blumen, frische Kräuter, Obst und Gemüse. Parks und Anlagen laden zum Joggen, Schlendern und Entspannen ein. Das klingt nach Utopie? Weitsichtige Architekten und Stadtplaner liefern schon jetzt Antworten auf die großen Themen unserer Zeit wie dem Klimawandel, Roh- und Brennstoff-Knappheit oder Wohnraumnot. Sogenannte Grüne Architektur ist bereits heute mehr als nur ein hipper Trend.
Um die Kriterien für nachhaltige Architektur zu erfüllen, reichen nicht nur Pflanzen allein. Auch die Form und Funktion eines Gebäudes muss zahlreichen ökologischen, ökonomischen und sozialen Anforderungen gerecht werden. Denn mit welchen Materialien wir bauen, wirkt sich nicht nur auf das Raumklima aus oder auf die Gesundheit der Bewohner, sondern auch auf Umwelt, Klima und Ressourcenverbrauch. Nachhaltiges Bauen betrachtet den gesamten Lebenszyklus von der Rohstoffgewinnung bis zum Recycling der Materialien. Grüne Architektur zeichnet sich deshalb durch folgende wichtige Merkmale aus:
die Verwendung von nachhaltigen, langlebigen und wiederverwertbaren Baumaterialien, wie beispielsweise recyclebarem Beton oder Holz
erhöhte Energieeffizienz durch Minimierung der Betriebsenergie und Nutzung von erneuerbarer Energie, wie Solarthermie, Geothermie und Photovoltaik
die optimale Ausrichtung eines Gebäudes zur Sonne, um Heizkosten zu sparen
eine effiziente Wärmedämmung mit natürlichen Dämmstoffen wie etwa Hanf, Schafwolle, Flachs oder Stroh
flächensparendes Bauen mit minimaler Versiegelung der Flächesparsamer Umgang mit Wasser
Doch wie lassen sich mittels nachhaltiger Architektur unsere Städte noch lebenswerter machen? Wir stellen Ihnen fünf visionäre Konzepte vor, die zeigen, in welche Richtung sich das Bauen der Zukunft entwickeln muss:
Eines der derzeit größten Umweltprojekte steht in Kopenhagen. Amager Bakke, eine neue Müllverbrennungs- und Energiegewinnungsanlage, entsorgt den Müll der gesamten Stadtbevölkerung der dänischen Hauptstadt. Gleichzeitig erzeugt die Anlage Strom und Fernwärme für etwa 150.000 Haushalte.
Das spannende an diesem Bauwerk ist aber, dass das dänische Architekturbüro Bjarne Engels Group das Gebäude nicht etwa am Stadtrand platzierte, sondern direkt an der Uferpromenade mitten in einem Naherholungsgebiet. Wie ein großer Hügel fügt sich das riesige Bauwerk mit einer Grundfläche von 41.000 Quadratmetern (etwa sieben Fußballfelder) in einen Park ein. Denn die Müllverbrennungsanlage bietet etliche Freizeitattraktionen wie Aussichtspunkte, Kletterwände, Street-Fitness und eine ganzjährig befahrbare Skipiste.
In Sydney entsteht am Blackwattle Bay in Pyrmont ein neuer Touristen-Magnet: Das dänische Designbüro 3XN verwandelt in Zusammenarbeit mit den lokalen Architekturbüros BVN, GXN Innovation und dem Landschaftsarchitekten Aspect Studios den drittwichtigsten Fischmarkt der Welt in eine architektonische Attraktion, die 2024 eröffnet werden soll.
Der Neubau gilt als Musterbeispiel in Sachen Nachhaltigkeit: Als charakteristisches Element überspannt ein leicht wellenförmiges Dach aus Holz und Aluminium den 65.000 Quadratmeter großen Fish Market. Es wurde so gestaltet, dass Regenwasser zur weiteren Verwendung aufgefangen, aber auch Solarenergie produziert wird. Außerdem nutzt die einzigartige Form die lokaltypischen Windverhältnisse, um heiße Luft abzuleiten. Das schützt die Menschen darunter vor den heißen Südwinden. Dreieckige Öffnungen lassen viel natürliches Tageslicht in das Gebäude, direktes Sonnenlicht wird abgelenkt. Klimaanlagen sind zwar nötig, der Einsatz wird aber minimiert.
Eine weitere Besonderheit dieses Entwurfes: Für Besucher zugängliche Bereiche und der Großmarkt sind strukturell voneinander getrennt. Allerdings lässt sich das geschäftige Treiben über eine Amphitheater-Treppe von der Uferpromenade oder dem Kai aus sicherer Entfernung anschauen.
Auch das chinesisch-österreichische Architektenpaar Fei und Chris Precht vom Studio Precht beschäftigt sich mit der Frage: „Wie kann Architektur Teil unserer Nahrungsmittelproduktion sein und dazu beitragen, eine stetig wachsende Bevölkerung zu ernähren?“ Eine Antwort liefert ihr phänomenales Projekt The Farmhouse. Die Idee: „Wir bauen gewissermaßen unser Ackerland und bepflanzen unser Gebäude“, erklären die Architekten. Dafür entwickelten sie ein Baukastenprinzip aus dreieckigen, stapelbaren Holzmodulen. Dieses Kartenhaus-Prinzip eignet sich für Hochhäuser genauso wie für Einfamilien- oder Tiny Häuser. In den jeweiligen Giebeln befinden sich Wohnräume mit abgewinkelten Wänden, dazwischen die V-förmigen Kubaturen als Anbaufläche für Obst und Gemüse.
Die Energieeffizienz steht eindeutig im Mittelpunkt, wenn es darum geht, Konzepte für Gebäude der Zukunft und Grüne Architektur zu entwerfen. So auch bei dem Weingut Shilda in Georgiens östlichster Region Kachetien. Drei wellenförmige Gebäudeteile sind hier buchstäblich in die Landschaft der Weinberge eingebettet. Aus der Vogelperspektive erkennt man kaum, dass hier ein Gebäude steht. Der Abstand der Weinreben, 2,5 Meter, bestimmt auch den Abstand der gekrümmten Stahlträger, dazwischen Grün und Glas. Um das Gebäude zu kühlen, wird die thermische Masse des Bodens genutzt. Aus dem gleichen Grund ist auch der Hauptteil der Fassade nach Norden ausgerichtet. Das hat den Vorteil, dass keine zusätzliche Energie zum Kühlen des Gebäudes nötig ist.
Ballungsgebiete wachsen immer weiter und Experten gehen davon aus, dass bis zum Jahr 2050 rund 70 Prozent der Erdbevölkerung im urbanen Raum leben wird. So ist der Bedarf an Grünflächen in den Städten höher denn je.
Um beispielsweise Amsterdam ein bisschen grüner zu gestalten, entwickelte das niederländische Architekturbüro MVRDV den Gebäudekomplex Valley, bestehend aus drei üppig begrünten Türmen. Die ersten Stockwerke sind noch für die Öffentlichkeit zugänglich und laden zu Spaziergängen über grüne Terrassen ein, während sich weiter oben private und verschachtelte Terrassen und Balkone für die Hausbewohner befinden. Das Gebäude bietet 198 Wohnungen, eine Sky Bar auf dem Dach rundet das Konzept ab.
Ein weiteres Beispiel steht mitten in einem Wald in der Bergregion Matarraña in Spanien. Dort platzierten die belgischen Architekten Kersten Geers und David Van Severen das Solo House, ein rundes, experimentelles Urlaubsdomizil auf einer Hochebene mitten im Grünen. Die Aufgabe der Architekten bestand darin, quasi eine unsichtbare Architektur zu erschaffen, um die beeindruckende Landschaft und die Qualitäten der Umgebung zu betonen.
Sie entwarfen eine Art Ufo: Zwei Betonringe mit einem Durchmesser von 45 Metern bilden Boden und Dach, dazwischen Stützen und große Panoramafenster. Die Fassaden lassen sich vollständig öffnen, so verschwindet die Grenze zwischen Innen und Außen. Auf dem Dach platzierte Photovoltaikmodule liefern thermische und elektrische Energie, die sich speichern lässt.
Das allgemeine Verständnis von Grüner Architektur ist, das Gebäude umweltfreundlich zu bauen. Dabei bleibt es wichtig, nicht auf kurzfristige Ziele, sondern vor allem auf langfristige Nachhaltigkeit zu setzen – von der Rohstoffgewinnung bis zum Recycling der Materialien.