Ob futuristische Monolithen von Zaha Hadid, surreale Bauwerke von Frank Gehry oder abstrakte Skulpturen von Daniel Libeskind: Gebäude dieser renommierten Bauplaner/-innen haben den Dekonstruktivismus in der Architektur populär gemacht. Doch ähnlich wie der Brutalismus beansprucht auch der dekonstruktive Baustil höhere Ziele, als der reine Begriff zunächst vermuten lässt.
Als Stilrichtung in der Architektur beschreibt „dekonstruktiv“ nicht nur das „Zerlegen“ oder „Auseinandernehmen“ von Konstruktionen, sondern vor allem den Bruch mit der üblichen Bauweise der Postmoderne. Bauwerke des Dekonstruktivismus widersetzen sich oft auf radikale Weise den harmonischen Idealen von Geometrie und Geradlinigkeit. Verzerrte Wände und Ecken, asymmetrische Flächen und scheinbar zufällig angeordnete Baukörper fügen sich wie Collagen zu künstlerischen Skulpturen zusammen. Strenge Linien und Formen werden durch freie und organische Elemente ersetzt. So können selbst massive Betonklötze wie sanfte, filigrane Kunstwerke erscheinen.
Als Beginn dieses außergewöhnlichen Stils gilt die Ausstellung „Deconstructivist Architecture” aus dem Jahr 1988 im New Yorker „Museum of Modern Art“. Die Ausstellung präsentierte Werke von sieben Design- und Architekturgrößen, die heute als Vertreter des Dekonstruktivismus bekannt sind. Doch schon zehn Jahre zuvor zeigte ein Entwurf von Frank Gehry typische Merkmale des Dekonstruktivismus. Sein Wohnhaus in Santa Monica gilt als das erste dekonstruktivistische Gebäude. Der kanadisch-US-amerikanische Architekt hat den Baustil nicht nur erfunden, sondern auch immer wieder an die Grenzen des Machbaren gebracht.
Unsere folgenden fünf Beispiele zeigen, wie vielseitig und kreativ der Dekonstruktivismus in der Architektur ist.
Mitten in Los Angeles hat Frank Gehry sich und dem Dekonstruktivismus mit der Walt Disney Concert Hall ein monumentales Denkmal gesetzt. Glänzende und matte Edelstahlflächen reflektieren das Licht wie auf- und abfallende Musiknoten. Das 2003 eingeweihte Konzerthaus ist mit seinem collagenartigen Charakter und den geschwungenen Formen ein beeindruckendes Lehrstück für den Architekturstil.
Auch in Europa und in Deutschland hat der Gründer des Dekonstruktivismus faszinierende Bauwerke realisiert, zum Beispiel die Gehry-Bauten „Neue Zollhaus“ in Düsseldorf und das Vitra Design Museum im baden-württembergischen Weil am Rhein.
Mit fließenden, dynamischen Formen hat die „Königin der Kurven“, Zaha Hadid, selbst Stahl- und Betonbauten in Bewegung erscheinen lassen und sich dabei jeder Geradlinigkeit widersetzt. Eines ihrer vielen Meisterwerke und Beispiele für den Dekonstruktivismus ist das Heydar Aliyev Center in Baku, dessen Entwurf 2007 im Rahmen eines internationalen Wettbewerbs entstand. Das Kulturzentrum von Aserbaidschan weicht mit skulpturalen Wellen, Wölbungen und Falten schon fast provokant von der Formsprache der umliegenden Architektur ab. Je nach Sonnenstand und Blickwinkel ändert die lichtreflektierende Hülle ihre Erscheinung. Um die herausfordernde Konstruktion zu realisieren, wurde der Betonkörper mit einem speziellen Gitterrahmensystem aus glasfaserverstärkten Platten kombiniert.
Auch der amerikanische Architekt und Stadtplaner Daniel Libeskind hat weltweit Gebäude im Stil des Dekonstruktivismus realisiert. Zu seinen bekanntesten Werken gehört die Erweiterung für das Royal Ontario Museum (ROM) in der Innenstadt von Toronto.
Der Name des 2007 eröffneten Neubaus, „Michael Lee-Chin Crystal“, nimmt Bezug auf den Sponsor des millionenschweren Projekts und die abstrakte Optik des Gebäudes: Fünf sich kreuzende, metallverkleidete Baukörper verbinden sich zu einer futuristischen Skulptur ohne rechte Winkel und gerade Wände. Die organisch ineinandergreifenden Prismen verwandeln den Museumskomplex in einen riesigen Kristall. Bis heute zählt die Erweiterung des ROMs zu den kompliziertesten Bauprojekten in Nordamerika.
Mit dem Nationalstadion in Peking hat das Architekten-Duo Herzog & de Meuron für die Olympischen Sommerspiele 2008 eine neue Art von öffentlichem Raum in der chinesischen Hauptstadt entworfen. Die gigantische Arena dekonstruiert die traditionelle Vorstellung davon, wie eine Sportstätte aussehen kann.
Schon aus der Ferne ist die unregelmäßige Struktur der Fassade erkennbar, die das Gebäude in riesige Einzelstücke zerlegt. Die separaten Elemente stützen sich gegenseitig und verwachsen zu einer gitterartigen, offenen Formation, bei der die Übergänge zwischen Innen und Außen verschwimmen. Schräge Stützen, Balken und Treppen verweben sich in ein Dickicht, das wie von der Natur geschaffen scheint und der Strahlkonstruktion den Titel als „Vogelnest" einbrachte.
Das Groninger Museum in den Niederlanden zeigt mit seiner farbenfrohen Fassade, wie ein Kunstmuseum selbst zum Kunstobjekt werden kann. Der italienische Designer Alessandro Mendini wurde mit dem Entwurf für das neue Kunstmuseum beauftragt, nachdem das alte Gebäude zu klein geworden war. 1992 begannen die Bauarbeiten, 1994 zog das Museum um.
Für das Konzept arbeitete Mendini mit drei Gastarchitekt/-innen zusammen: Philipe Starck, Michele de Lucchi und Coop Himmelb(l)au fügten seinem Entwurf eigene Gebäudeteile hinzu. Ein Baukörper aus traditionellem Backstein, ein mit Aluminiumplatten verblendeter Rundbau sowie ein Pavillon aus Stahl, Beton, Teer und Glas stehen sowohl untereinander als auch zum Hauptbau im starken Kontrast. Den Komplex von Mendini prägen die bunte Verkleidung und der gelbe Turm des Zentralpavillons. In der Innen- und Außengestaltung vermischen sich Merkmale unterschiedlicher Stile, zum Beispiel funktionale Elemente aus dem Bauhaus und typisch italienische Terrazzo-Motive. Diese überraschenden Stilbrüche und Unregelmäßigkeiten machen den dekonstruktiven Charme des Groningen Museums aus.
Bauwerke des Dekonstruktivismus haben bis heute nichts von ihrer Originalität und ihrem avantgardistischen Reiz verloren. Wir dürfen gespannt sein, wie Architekt/-innen und Designer/-innen die moderne Baukunst in Zukunft an ihre Grenzen bringen.